LOS VON LOOS GESETZ FÜR INDIVIDUELLE BAUVERÄNDERUNGEN ODER ARCHITEKTUR-BOYKOTT-MANIFEST

Friedensreich Hundertwasser

Liebe Leute,

man fragt mich, wieso ich mich als Maler überhaupt in die Angelegenheiten der Architektur einmische. Nun, als Maler bin ich auch nur ein Mensch. Und wenn man sich irgendwo hinsetzt, dann wischt man auch erst den Stuhl ab, wenn er schmutzig ist. Also: wenn ich in eine schmutzige Architektur hineingehe, so muß ich sie auch erst entschmutzen.

Und je schmutziger die Architektur, desto stärker und wirksamer muß die Bekämpfung des Schmutzes sein.

Und dieses, nur dieses, habe ich vor 14 Tagen getan.

 Ich gehe nur als freier Mensch in ein Haus hinein. Nicht als Sklave. Erst dann kann ich alles weitere tun, wie zum Beispiel malen oder etwas sagen.

Einen anderen, sehr wichtigen Grund habe ich, diesen Schachtelgefängnis-Unfug gerade in Wien anzugreifen. Und zwar als Österreicher. Und da habe ich sogar eine moralische Verpflichtung. Denn von Österreich ging dieses Architektur-Verbrechen in die Welt. Daher muß von hier aus die Wiedergutmachung einsetzen.

Der Österreicher Adolf Loos hat diese Schandtat in die Welt gesetzt, bereits 1908 und sinnigerweise mit seinem Manifest „Ornament und Verbrechen“. Sicher hat er es gut gemeint.

Auch Adolf Hitler hat es gut gemeint. Aber Adolf Loos war unfähig, 50 Jahre vorauszudenken. Der Teufel, den er rief, den wird die Welt nun nicht mehr los.

Es ist meine und unser aller Pflicht, das Verhängnis, das vor sechzig Jahren von Österreich aus seinen Lauf nahm, hier, gerade hier, als erste zu erkennen und zu bekämpfen.

Genau fünfzig Jahre danach, 1958 in Seckau, habe ich mein „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ verlesen. Jetzt bin ich nicht mehr alleine. Es gibt Architekten, die es sich zu Herzen nehmen. In Deutschland findet eine Tagung nach der anderen statt von Architekten mit Gewissen, die die Verantwortung für das, was sie tun, ganz entsetzlich drückt. Aber sie wissen keinen Ausweg. Und doch habe ich bereits neue Gebäude gesehen, die nicht am Reißbrett entstanden sind. Das tut gut. Aber das ist alles noch zu wenig.

Zurück zu Loos. Natürlich stimmt es, daß die schablonierten Ornamente Lüge waren. Verbrechen waren sie nicht. Durch die Abnahme der Ornamente wurden aber die Häuser nicht ehrlicher. Loos hätte das sterile Ornament durch lebendes Wachstum ersetzen sollen.

Das tat er nicht. Er pries die gerade Linie, das Gleiche und das Glatte.

Nun, jetzt haben wir das Glatte.

Auf dem Glatten rutscht alles aus.

Auch der liebe Gott fällt hin.

Denn die gerade Linie ist gottlos.

Die gerade Linie ist die einzige unschöpferische Linie. Die einzige Linie, die dem Menschen als Ebenbild Gottes nicht entspricht.

Die gerade Linie ist ein wahres Werkzeug des Teufels. Wer sich ihrer bedient, hilft mit am Untergang der Menschheit. La ligne droite conduit à la perte de l’humanité.

Wie wird der Untergang sein? Einen Vorgeschmack haben wir schon: In jedem Wohnblock in New York zehn bis zwanzig Psychiater. Die Kliniken überfüllt, wo die Irren nicht gesund werden können, weil die Kliniken auch nach Loos gebaut worden sind.

Die Krankheiten der Menschen, die in den sterilen Gemeindebauten interniert sind, gedeihen in der tödlichen Eintönigkeit. Es kommen Ausschläge, Geschwüre, Krebs und seltsame Todesarten. Genesung ist in diesen Gebäuden unmöglich. Trotz Psychiatrie und Krankenkasse.

In den Satellitenstädten zählt man mehr und mehr Selbstmorde. Und unzählige Selbstmordversuche. Es sind Frauen, die nicht wie die Männer tagsüber weggehen können. Stundenlang kann man über das Elend berichten, das mit Loos begann.

Der Nihilismus der Internierten drückt sich in einer Abnahme der Arbeitslust, in einer Abnahme der Produktion aus. Das können mir Psychiater und Statistiker sicher bestätigen. Denn auch das Unglücklichsein kann man in Zahlen und in Geld ausdrücken.

Und so ist der Schaden, den die rationelle Bauweise anrichtet, um ein Vielfaches höher als die scheinbare Einsparung. Und somit ist der Beweis erbracht, daß die rationellen Bauten kriminell werden, wenn man sie in diesem Zustand beläßt. Ich bin nicht so sehr gegen die Serienherstellung.

Die braucht man leider vorläufig noch.

Aber in Serien hergestellte Dinge so zu belassen, wie man sie bekommt, ist ein Beweis für die eigene Unfreiheit, ein Beweis dafür, daß man Sklave ist.

Helft mit, die verbrecherischen Gesetze zur Unterdrückung der schöpferischen Bau-Freiheit zu annullieren! Die Leute wissen ja noch gar nicht, daß es ihr Recht ist, ihre Kleidung innen und außen, ihre Behausung innen und außen selbst zu gestalten.

Ein einzelner Architekt oder Bauherr kann nicht die Verantwortung für ganze Wohnblocks tragen, ja nicht einmal mehr für ein einziges Haus, in dem mehrere Familien wohnen.

Diese Verantwortung muß jedem einzelnen Bewohner zugestanden werden, ob er nun Architekt ist oder nicht.

Alle Verbote der Baupolizei, der Mietverträge und so weiter, die individuelle Veränderungen am Haus unmöglich machen oder einschränken, müssen aufgehoben werden.

 Ja, es ist sogar die Pflicht des Staates, jedem Bürger, der individuelle Veränderungen vornehmen will, sei es an der Außenmauer oder innen, finanziell zu unterstützen und beizustehen.

Der Mensch hat insbesondere ein Anrecht auf seine architektonische Außenhaut. Eine einzige Bedingung: Die Nachbarn des Veränderers und die Stabilität des Hauses dürfen nicht leiden. Aber dazu sind ja die Techniker da, die alles so schön berechnen können.

Nicht nur der Wohnungseigentümer, auch der Mieter muß die Möglichkeit haben, alles architektonisch zu verändern.

Nur wenn der nach ihm einziehende Mieter mit den baulichen Veränderungen nicht einverstanden ist, soll der vorherige Zustand wiederhergestellt werden. Es ist jedoch mit 90prozentiger Sicherheit anzunehmen, daß die individuellen architektonischen Verbesserungen, die sowieso zum Menschlichen hin tendieren, dem nachfolgenden Mieter höchst willkommen sein werden.

Wenn dieses Individuelle-Bauveränderungs-Gesetz nicht herauskommt, wird sich die Gefängnis-Psychose der Internierten bis zu einem entsetzlichen Ende verstärken.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder absolute Versklavung oder Auflehnung gegen die Verbote der individuellen Freiheit.

Falls das Individuelle-Bauveränderungs-Gesetz nicht herauskommt, fordere ich ab sofort Gegenmaßnahmen.

Es gibt da mehrere Möglichkeiten:

1. Der Boykott. Man weigere sich, diese Sklavenkäfige zu benützen. Man weigere sich, hineinzugehen. Wenn man irgendwohin eingeladen ist, sei es zu Freunden oder zur Polizei, und das Haus ist eine sterile Schachtel, so gehe man zum nächsten Telefon und bitte die Person heraus.

2. Die architektonische Veränderung durch den Besucher. Ich habe diespersönlich zum ersten Mal in einem Studentenheim demonstriert. Man gehe in einen Sklavenkäfig nur dann hinein, wenn man ihn architektonisch verändern kann. Dadurch, daß ich schwarze und rote Farbe an die sterile Wand goß und mich nackt auszog und nur im nackten Zustand meine Ansprache hielt, hatte ich mir das moralische Recht erworben, in diesem sterilen Käfig überhaupt anwesend zu sein.

 

Nun gibt es sowieso schon unbewußte architektonische Revolten und Veränderungen. Und auch viele Arten von unbewußtem Boykott:

Da sind die Schießereien und Straßenschlachten wie in Chicago.

Da sind die Bombenwürfe im Krieg.

Da ist die zunehmende Jugendkriminalität in den neuen Stadtvierteln.

Da ist das Randalieren der Besoffenen.

Da ist der Ausbruch der Lederjacken und der Hippies.

Da ist die Flucht in den Urlaub und die bittere Rückkehr.

Da ist die Flucht ins Kino, in die Television, in die Bücher.

Da ist die Flucht in die Kunst, in die Musik.

Da ist die Flucht in die Welt der Träume, des Alkohols und des Rauschgiftes.

Da ist die Flucht in den Tod.

Wer ist schuld daran?

Die feigen Architekten, Hampelmänner ihrer skrupellosen Auftraggeber.

Jedenfalls: Die, die fliehen, revoltieren oder Selbstmord begehen, haben es noch gut. Aber die, die diese Ausweichmöglichkeiten nicht haben, verlieren ihre Seele, ihr Menschtum, ihr heiligstes Gut und alles andere sowieso.

Ich aber schlage vor:

Nicht zu revoltieren,

nicht zu fliehen,

nur zu ändern

und alles wird wieder gut.

 

Ich sage zuerst einmal, wie ich mir das vorstelle. Ich werde ein Kilogramm Gips mit mir herumtragen. Wenn ich irgendwo eingeladen bin, werde ich mir das Haus erst ansehen. Wenn es ein glatter Bau ist, in dem Leute interniert sind, die nichts tun dürfen, nichts tun können, nichts tun wollen, werde ich darauf bestehen, eine schöne Gipserhebung eigenhändig an der Außenwand des Hauses anzubringen.

Falls ich das nicht tun darf, gehe ich nicht hinein.

Ich fordere euch auf, dies oder ähnliches zu tun, wenn ihr ein Gewissen habt. Denn wenn ihr dieser sterilen Architektur aus der Hand freßt, entsteht der Verdacht, sie schmeckt euch. Wenn zum Beispiel täglich 100 individuelle Hügel Gips an einem sterilen Bezirksamt angebracht werden, so wird selbst dieses Gebäude rasch besser und schöner.

Oder aber die Mieter weigern sich, in einem Haus, in dem ganz gleiche Wohnungen daneben darüber und darunter sind, den Zins zu zahlen, so lange sie nicht eigenhändig umbauen dürfen.

Oder: Werktätige weigern sich durch eine Straße zu gehen oder zu fahren, wo rechts und links sterile Hausfassaden sind. So wie sich jedes Reh weigert zu gehen, wo ihm nicht geheuer ist.

Oder: Man kann mit einem Stück Eisen Dinge in die glatten Außenmauern ritzen, ähnlich wie man es in den Aborten sowieso tut. Was haben wir für eine schändliche Versklavung, daß die letzten Überbleibsel der individuellen Gestaltung sich nur noch in den Klosetten finden, den letzten Orten der Freiheit.

Die einzigen freien Gebäude, die wir noch haben, sind die Schrebergartenhäuser.

Jeder Architekt hat die heilige Pflicht zu sagen, daß das, was er da hingestellt hat, noch lange nicht alles ist. Daß es erst ein elendiges Gerippe ist, das die Bewohner erst umgestalten müssen; daß er selbst unfähig ist, jedem ein eigenes Heim zu bauen. Seine Pflicht ist nur die eine: das Gerippe stark genug und variabel genug zu machen, so daß bauliche Teil-Veränderungen durchführbar sind.

Da in den Städten nicht mehr alle zu ebener Erde unterkommen, hat er als Konstrukteur die Ebenen übereinander zu schaffen.

Damit aber ist seine Mission auch schon zu Ende.

Das Erdstück, das beim Hausbau zugedeckt und umgebracht wird, muß auf das Dach verlegt werden. Eine dicke Erdschicht, daß auf den Dächern 100jährige Bäume, riesige Bäume, wachsen können. Es ist unverständlich, wieso die Dächer Wiens nicht als Parkanlagen genutzt werden. Man wird sagen: Solche Wälder auf Dächern kosten mehr als das Haus selbst.

Aber ich bin sicher: In wenigen Jahren wird man gezwungen sein, ein Baugesetz herauszubringen, das für jedes Haus, für jede Garage, für jede Fabrik, besonders für jede Fabrik, eine ein bis zwei Meter hohe Erdschicht auf dem Dach vorschreibt. Für Wiesen, Wald, Parkanlagen, Gärten und Landwirtschaft mit Kühen.

Und dies wird nicht genügen. Man wird gezwungen sein, zu jedem Stockwerk Menschenbehausung vier Stockwerke Wald und Wiese dazuzubauen. Also ein 10geschoßiges Gebäude wird übereinander 8 Schichten Wald haben müssen für nur zwei Schichten Mensch.

Nun hätte ich einen Vorschlag: Ernst Fuchs, Arnulf Rainer und ich bilden das Pintorarium, eine freie Vereinigung grundverschiedener, noch nicht korrupter Kräfte. Wie wäre es, wenn jeder von uns, Arnulf Rainer, Ernst Fuchs und ich, je ein bereits bestehendes und bewohntes steriles Haus zur Umgestaltung zugeteilt bekämen? (Inzwischen haben meinem Beispiel folgend die Maler Brauer, Kumpf, Fuchs, Oberhuber und Attersee Häuser gebaut bzw. sich architektonisch betätigt; Bemerkung von Hundertwasser, 1996)

 

In Wien sind die Hüllen und Schalen so wichtig, daß man glaubt, ohne den Kern auszukommen. Wehe, wenn man die Umhüllungen wegnimmt. Unsere Feigheit, unsere Lüge ist riesengroß.

Ich bin dabei, mich davon zu befreien.

Ich habe versucht, mich nackt auf die Wahrheit zu konzentrieren.

Es ist sehr schwer. Man ist allem ausgesetzt, wenn man nichts anhat.

Aber der Sieg ist groß. Es ist ein gutes Gefühl.

Es wäre gut, wenn unsere Regierung auch den Mut aufbringen würde, nackt zur Öffentlichkeit zu sprechen.

 

Es tut gut, wenn man seine Pflicht tut.

Ich fühle mich sehr wohl.

 

Vorgetragen am 9. Februar 1968 im Concordiasaal in Wien.

Publiziert in:

Hundertwassers Privatdruck über die Manifeste und die Nacktreden 1967 und 1968. Wien, 2. Auflage, 1968

Protokolle. Zeitschrift für Literatur und Kunst. hrg. von Otto Breicha und Gerhard Fritsch. Jugend und Volk: Wien 1968, S. 56-63

Katalog zur Ausstellung im Haus der Kunst, München 1975. Gruener Janura AG: Glarus/Schweiz 1975, S. 356-365

Kataloge zur Welt-Wanderausstellung 1975–1987: Französische Ausgabe: Paris, Luxemburg, Marseille, Kairo, 1975; Kopenhagen, Dakar, 1976; Montreal, Brüssel, 1978. Englische Ausgabe: Tel Aviv, Reykjavik, 1976; Cape Town, Pretoria, Rio de Janeiro, São Paulo, Brasilia, Caracas, 1977; Mexiko City, Toronto, 1978; Rom, Høvikodden, 1980; Helsinki, 1981; London, 1983. Deutsche Ausgabe: Warschau, 1976; Pfäffikon (Schweiz), 1979; Köln, 1980; Wien, Graz, 1981. Japanische / Englische Ausgabe: Tokyo, 1977.

Breicha, Otto; Urbach Reinhard: Österreich zum Beispiel. Literatur, Bildende Kunst, Film und Musik seit 1968. Residenz Verlag: Salzburg, S. 68-72

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser – Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv): München 1983, S. 174-179 und Ausgabe 2004 (Langen Müller Verlag, München), S. 227-231

Das Hundertwasser Haus. Österreichischer Bundesverlag/Compress Verlag: Wien 1985, S. 61-64 Rand, Harry: Friedensreich Hundertwasser. Taschen: Köln 1991, S. 138-139 (Auszug), gekürzte Ausgabe 1993 und Ausgabe 2003, S. 118-119 (Auszug)

Hundertwasser Architektur. Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Taschen: Köln 1996, S.58-61 und erweiterte Neuausgabe 2006, S.44-47 H

Hundertwasser. Parkstone Press International: New York 2008, S. 135-139