ÜBER DEN VERZÖGERUNGSMECHANISMUS, DIE SCHUTZSCHICHTEN, DIE OBERFLÄCHENFEINDE UND DIE VORURTEILSFALLE ODER DIE POSITIVE LANGZEITWIRKUNG DER NEGATIVEN BEURTEILUNG DES POSITIVEN

Friedensreich Hundertwasser

Nichts verhilft dem wahren Positiven zu größerer Schlagkraft als ein negatives Aufhaltenwollen.
Die Wirkung des Positiven vervielfältigt sich einmal durch die Sperre des Negativen und die von den negativen Kräften ungewollte Publicity des Positiven. Dann durch die Akkumulation des Positiven, bis es nicht mehr übersehen werden kann. Ähnlich wie beim Aufstauen hinter einem Damm.[1]
Dann durch den Dammbruch, der dem inzwischen mannigfach verstärkten Positiven freien Lauf läßt. Das Zugebenmüssen, daß das als negativ Beurteilte in Wahrheit positiv ist, ist eine schwere Erkenntnis, die bedeutend tiefere Spuren hinterläßt, als wenn das Positive sofort als positiv erkannt wird.
So wird eine Mehrfachwirkung erzielt.
Es scheint, als ob Hundertwasser, unbewußt oder bewußt, diesen Verzögerungseffekt in größter Meisterschaft handhabt und kultiviert zur immer wiederkehrenden Verblüffung seiner „Feinde“, die für Hundertwasser gar keine Feinde sind, sondern willkommene Verstärker, Sprachrohre und Werkzeuge des Verzögerungsmechanismus.
Die, die gegen Hundertwasser Stellung nehmen, sind immer solche, die ihn nicht persönlich kennen, oder solche, die sich mit seinen Gedanken, Bildern und Anliegen nur oberflächlich beschäftigt haben. Das heißt, es sind solche, die ihn nur vom Hörensagen kennen und negative Vorurteile übernommen haben, ohne sie zu überprüfen.
Wenn jemand sagt: Hundertwassers Gehabe und das, was um ihn herum ist, verhindert meine Sicht auf seine Bilder und verstellt mir den Weg zu seinem Anliegen - so bedeutet das, daß er nicht vorurteilsfrei sehen kann, daß der Verzögerungseffekt bei ihm den Verzögerungsmechanismus erfolgreich in Gang gesetzt hat. Er ist Opfer seines Vorurteils geworden. Er ist in die zu des Künstlers Schutz angelegte Vorurteilsfalle geraten, die existiert, um dessen Bilder und Botschaften vor dem bösen Auge des Nichtbevollmächtigten zu schützen.
Er ist in die Vorurteilsfalle gefallen.
Hundertwasser hat immer wieder die Erfahrung gemacht, daß die sogenannten Feinde als Werkzeug für den Verzögerungsmechanismus unbrauchbar werden, wenn sie ihn persönlich kennenlernen oder sich tiefer mit seinem Anliegen beschäftigen, weil sie dann entweder verstummen oder überzeugte Wegbegleiter werden.
Typische Verzögerungseffekte entstehen zum Beispiel durch: im nackten Zustand Verkünden von Wahrheit über die Dritte Haut, die Brennesselaktion, das Rahmen von Bildern in „Wanzenrahmen“ (unbewußt) im Art Club 1952, das (unbewußte) Auslassen eines „R“ im Bildnamen „Europäer der sich seinen Schnurbart hält“. Gebrauch von verfremdeten Ausdrücken wie „entartete Kunst“, Prägung von Begriffen und Sätzen wie: Hundertwasser ist ein Geschenk für Deutschland; Architekten sind wie Kriegsverbrecher; Meine Augen sind müde; Durch unsere Scheiße werden wir unsterblich; Die gerade Linie ist gottlos; Schüler werden durch Pflanzen ersetzt. Das Praktizieren von „creative clothing“. Das Vortragen von sieben Meter langen Schriftrollen. Die Beschmutzung steriler Architektur. Etc.
Wobei die Steine des Anstoßes bei direkter Betrachtung gar keine sind, sondern ganz im Gegenteil ebenfalls prägnante Wahrheiten, die nichts verschlüsseln und nicht verschlüsselt sind. Sie erzeugen bei nur oberflächlicher Wahrnehmung den Verzögerungseffekt und sogenannte „Oberflächenfeinde“ als willkommene Werkzeuge für den Verzögerungsmechanismus. Die Oberflächenfeinde fallen dabei in die Vorurteilsfalle.
Der durch den Verzögerungseffekt in Gang gesetzte Verzögerungsmechanismus dient der Verstärkung des Fundamentes und der Verstärkung der Struktur der von Hundertwasser geschaffenen Thesen.
Im Pflanzenreich ist der Verzögerungsmechanismus geradezu Lebensregel. Wenn nicht Winterkälte und Dürre diesen Verzögerungsmechanismus gratis liefern, suchen sich die Pflanzen selbst Behinderungen mit Hilfe einer ausgeklügelten Abwarte- und Hinhaltetaktik, um nicht zu schnell zu wachsen und zu sterben.[2]
Daher weigert sich Hundertwasser, Ehren, Preise, Titel anzunehmen,[3] es sei denn, daß er sie zum Anlaß eines Verzögerungseffektes einer neuen oder alten notwendigen Wahrheit verwenden kann, um ihr größere Wirkung zukommen zu lassen.
Diese Wahrheiten sind positive Botschaften, nie gegen die Verleiher gerichtet, sondern zu ihren und der Allgemeinheit Gunsten. Das erkennen viele jedoch erst später.[4]
 
 
Den Verzögerungsmechanismus studiert Hundertwasser ganz genau. Ihn interessieren nur die negativen Kritiken. Die positiven liest er kaum. Sie sind ihm eher unangenehm, weil sie ihn „zu früh sterben lassen“, zu früh an die Oberfläche auftauchen lassen: klassifiziert, akademisiert, institutionalisiert.
Andererseits weiß Hundertwasser genau, wo er steht und wo er wurzelt. Seine Selbstkritik ist sehr hart und übertrifft alles, was an Oberflächenkritik auf ihn zukommt.
Hundertwasser freut sich über jede negative Kritik. Er sammelte sie für ein Buch, das er herausbringen wird: „Hundertwasser - Negative Kritiken - Verschollene Bilder“.
Hundertwasser übernimmt gerne Beschimpfungen seiner Person und seines Werkes und trägt sie wie einen Adelstitel.
Zum Beispiel: „Moi, peintre littéraire et décoratif. Je suis heureux et bien portant» (im Katalogtext 1956 Studio Paul Facchetti als Antwort auf einen Pariser Kritiker).
Oder: „Ich bin ein Behübscher“ in der Pressekonferenz mit Bürgermeister Gratz 1980 in Wien (gemeint ist ein Schimpfwort in Abwandlung der pseudo-ästhetischen Grundsätze von Adolf Loos in „Ornament und Verbrechen“, 1908, der dritten Wiener Architektengeneration mit Bauhausmentalität).
Oder: „Ich bin ein Maler der heilen Welt“. Gemeint ist: ... von morgen. (Die heile Welt, dieses schöne Wort, wurde um 1975 zum Schimpfwort, ähnlich, fast synonym, wie „Faschist“ um 1950-1960.)
Manchmal legt Hundertwasser selbst seinen Kritikern Schimpfworte in den Mund: „Ich bin ein Bluffer“ anläßlich seiner ersten Ausstellungsansprache 1952 Art Club Wien. Allerdings mit dem Zusatz: „Ich bin selbst noch im allgemeinen Lügennetz verstrickt, aus dem ich mich befreien will.“ Was aber dem Kritiker Lampe genügte, um Hundertwasser als Bluffer zu bezeichnen.
Aus ähnlichen Überlegungen nimmt Hundertwasser die Gartenzwerge vor dem Rationalismus in Schutz, kämpft für den kleinen Mann und die großen Gefühle und kämpft für das Fensterrecht und die Dritte Haut, was ihm den Schimpfnamen „Fassadenguru“ eintrug (Wiener Arbeiterzeitung vom 10. Juli 1980), auf den er sehr stolz ist.
Gemäß seiner Grammatik des Sehens malt Hundertwasser vielschichtig. Bei oberflächlicher Betrachtung ist nur die Oberflächenschicht sichtbar, so wie bei Brueghels Bildern, die unter der „lustigen“ Oberschicht für seine damaligen Zeitgenossen tiefere Schichten erst im Verlaufe der Jahrhunderte erkennbar werden lassen und die bedeutendsten Betrachter zu immer wieder neuen Entdeckungen und Erkenntnissen herausfordern.
Bei Hundertwassers Bildern liegt bewußt die „hübsche“, „dekorative“, „pseudo-naive“, „christbaumschmuckartige“, „schillernd bunte“ Schicht an der Oberfläche. Das deroutiert diejenigen der heutigen Zeitgenossen, die nur mit Hilfe von rationell intellektuellen
Einheitsbrillen, mit denen sie ausgestattet wurden, Dinge zu erkennen glauben. Was sie zu erkennen glauben, ist jedoch nur eine Schutzschicht, die ganz bewußt Hundertwassers „Oberflächenfeinden“ Anstoß bietet, wodurch sie als tiefere Betrachter aufgehalten werden, so wie an einer Grenze, wenn man den Paß nicht hat. Diese Schutzschicht auf Hundertwassers Bildern ist gleichbedeutend mit dem Verzögerungseffekt seiner Schriften und Aktionen, läßt Oberflächengegner in die Vorurteilsfalle fallen und setzt einen analogen Verzögerungsmechanismus in Gang.
Unter dieser Schutzschicht, die nur die Unbefugten, Nichtbevollmächtigten aufhält, befinden sich andere Schichten und Perspektiven, die sofort erfaßt werden können, wenn der Betrachter sich ebenfalls in einer anderen Dimension befindet. Diese tieferen Schichten sind rationell, intellektuell nicht erkennbar, sondern nur kreativ. Das kreative Sehen ist intuitiv und sehr einfach und nicht angelernt, intellektuell schabloniert. Das schöpferische Sehen ist einer höheren Dimension des Menschen zu eigen, da der Mensch als Individuum nur kraft seiner selbst, nur kraft seiner eigenen Kreativität wirklich sehen kann.

Die intellektuelle Betrachtungsweise hingegen ist die des Blinden, weil solchermaßen der Betrachter gar keine eigenen Augen hat und weil er mit ausgeborgten, angelernten, schematisierten, begradigten, verordneten Augen nicht sehen kann.
 
Kaurinui-Tal, 28. März 1983
 
 

[1] Stowasser bedeutet Stauwasser oder Stehwasser. Sto kommt, wie sich später herausstellte, nicht aus dem Slawischen mit der Bedeutung hundert, obwohl Friedrichs Ahnen väterlicherseits aus dem Egerland in Böhmen stammen. Hundertwasser hat also seinen Namen falsch verdeutscht.
[2] Man vergleiche zum Beispiel das Wachstum der Eiche mit dem der Pappel oder das Wartenkönnen der Bäume mit dem Austreiben der Blätter bis zum richtigen Zeitpunkt.
[3] Die Titulierung „Professor“ ist für ihn eine Beleidigung. Briefe mit dem Titel Professor gehen an den Absender zurück.
[4] Eine immer wieder kolportierte Geschichte besagt, daß sich Hundertwasser bei der Eröffnung eines Studentenheimes, zu der er aus dem Ausland eingeladen wurde, um eine Ansprache anläßlich einer kleinen Ausstellung zu halten, vor der Frau Vizebürgermeisterin Gertrude Fröhlich-Sandner nackt ausgezogen hat, um sie persönlich beziehungsweise die Baupolitik der sozialistischen Gemeinde Wien zu brüskieren. Tatsächlich hat Hundertwasser jedoch gegen das sterile Gebäude des Studentenheimes und gegen die rationalistische Architektur im allgemeinen protestiert. Er wußte gar nicht, wer anwesend war, wer der Architekt war und in wessen Auftrag das Studentenheim gebaut worden war. Er hätte sich auch vor dem Papst ausgezogen, um einer guten Sache Nachdruck zu verleihen.
 

 

Verfasst für: Walter Schurian (Hg.), Hundertwasser, Schöne Wege - Gedanken über Kunst und Leben, München, 1983 (Kaurinui, 28. März 1983)

Publiziert in:

Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser - Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), 1983, S. 13-17 und Ausgabe 2004 (München: Langen Müller Verlag), S. 71-75.

A. C. Fürst, Hundertwasser 1928-2000, Catalogue Raisonné, Köln: Taschen 2002, Vol. II, S. 961-964 (Deutsch und Englisch).

Katalog zur Ausstellung Hundertwasser – Kunst – Mensch – Natur. Minoritenkloster, Tulln 2004, S. 56 (Auszug).

Der unbekannte Hundertwasser. Katalog zur Ausstellung im KunstHausWien. München: Prestel Verlag 2008, S. 111-117.