AN DIE BEWOHNER WIEN-ALSERBACHSTRASSE
Liebe Hausbewohner!
Wir freuen uns, einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität in Ihrem Bereich leisten zu können. In Ihrem Haus werden fünf Baummieter nach Entwürfen von Hundertwasser einziehen. Die Baummieter bewohnen einen zirka vier Quadratmeter großen loggiaartigen Wohnbereich, welcher vom menschlichen Wohnraum fachgerecht getrennt wird.
Es werden drei Baummieter aus Fenstern im ersten Stock direkt über der Zentralsparkasse und zwei Baummieter zu ebener Erde direkt aus der Bank herauswachsen. Die Vorteile hauseigener Baummieter sind unbestritten und vielfältig.
Da die Straße wegen des Verkehrs und den Untergrundeinrichtungen für Baumpflanzungen weitgehend ausfällt, Dachbepflanzungen jedoch meist Penthousecharakter annehmen und für den Mann der Straße unsichtbar beleiben und auch aus konstruktionellen Gründen oft unmöglich sind, bieten sich die senkrechten Hausfassaden zu einer Bewaldung der Stadt an.
Hier nur einige der Vorteile:
1. Baummieter, das heißt Bäume, die aus dem Fenster wachsen, sind weithin sichtbar und kommen vielen Menschen zugute.
2. Baummieter erzeugen Sauerstoff.
3. Baummieter verbessern das Stadt- und Wohnklima beträchtlich durch Milderung der Feucht-Trocken-Warm-Kalt-Gegensätze. Weniger Kopfweh - mehr Wohlbefinden.
4. Baummieter sind eine perfekte Staubschluck- und Staubfilteranlage. Besonders der feine, giftige Staub, den auch die Staubsauger nicht schlucken können, wird von den Baummietern in ihrem Bereich weitgehend neutralisiert und abgebaut. Die Hausfrau hat weniger Staub in den Wohnungen.
5. Der Straßenlärm wird bedeutend gemildert, da die Echowirkung der senkrechten Häuserschluchten eingedämmt wird.
6. Baummieter bilden einen teilweisen Sichtschutz und erzeugen Geborgenheit.
7. Da die Baummieter mit wenigen Kubikmetern Erde auskommen müssen, können sie sich nicht zu großen Bäumen entwickeln. Daher wird die schattenspendende Eigenschaft sehr beschränkt blieben. Sonne und Licht gelangen also gut auch an die Fenster, vor denen Baummieter wachsen, insbesondere im Winter, wenn die Blätter abgefallen sind.
8. Keine Belästigung durch Spinnen und Ameisen, da diese nicht in Bäumen wohnen. Hoffentlich kommen jedoch Schmetterlinge und Vögel.
9. So kommt die Schönheit und Lebensfreude wieder im Zusammenleben mit einem Stück hauseigener Natur.
Hundertwasser
Verfasst anlässlich der Baummieter Aktion, Alserbachstraße, 1980/81.
Publiziert in:
Schurian, Walter (Hg.): Hundertwasser - Schöne Wege, Gedanken über Kunst und Leben. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv) 1983, S. 158-159 und Ausgabe 2004 (München: Langen Müller Verlag), S. 210-211
Das Hundertwasser Haus. Wien: Österreichischer Bundesverlag/Compress Verlag 1985, S. 116-117
Hundertwasser Architektur. Für ein natur- und menschengerechteres Bauen. Köln: Taschen 1996, S. 82-84 und erweiterte Neuausgabe 2006, S. 64-66
Eichheim, Hubert; Bovermann, Monika; Tesarová, Lea et al.: Blaue Blume. Deutsch als Fremdsprache. Kursbuch - Englische Ausgabe. Ismaning/Deutschland: Max Hueber Verlag 2002, S. 329
Hundertwasser The Green City, Katalog zur Ausstellung, Sejong Museum of Art, Seoul, 2016, S. 169, Auszug (Englisch/Koreanisch)